Die Annaverehrung in Boke
von Bernhard Kößmeier
Im Dezember des Jahres 2001 kehrte eine bemerkenswerte Heiligenfigurengruppe in die Boker Pfarrkirche zurück. Es handelt sich um die “Unterweisung Mariens”, im Volksmund auch “Mutter Anna” genannt. Den Jüngeren ist diese Figur nicht bekannt, da sie seit einigen Jahrzehnten im Pfarrhaus gestanden hat. Die frühere religiöse Bedeutung, die die Mutter Anna in der Gemeinde Boke gehabt hat, ist heute zum Teil in Vergessenheit geraten. Das ist Grund genug, sich mit der “Mutter Anna” und der damit verbundenen Tradition, die für die Geschichte Bokes sehr bedeutungsvoll ist, zu beschäftigen.
Das Namensfest der hl. Anna, Mutter der Gottesmutter Maria, wird am 26. Juli gefeiert. Ihre Lebensgeschichte ist wenig bekannt, aber die Verehrung der hl. Anna ist sehr alt. Obwohl sie in der Heiligen Schrift nicht genannt wird, ist sie als Großmutter von Jesus zum Inbegriff der Mütterlichkeit geworden. Ihre Vita stammt aus dem Protoevangelium von Jakobus, “das gläubige Volk hat die Ahnfrau des Erlösers, die Mutter der Gottesgebärerin seit dem frühen Mittelalter heiliggesprochen, und die Kirche hat diesen Kult gutgeheißen.”1 In der Kunstgeschichte wird die hl. Anna häufig zusammen mit Maria und Jesus als so genannte “Anna Selbdritt” dargestellt.
Bei der Boker Heiligenfigur ist das anders, hier lässt sich eine sehr seltene Entstehungsgeschichte beobachten. Die Figur wurde zunächst im 14. Jahrhundert als gotische Sitzmadonna geschaffen. Etwa dreihundert Jahre diente sie der Marienverehrung; auf ihrem Schoß trug sie das Jesuskind. Die Umarbeitung zur Mutter Anna erfolgte um 1750, in der Zeit des Spätbarocks. Durch Entfernung des Kindes und Hinzufügung der kleinen neuen Marienfigur entstand die heutige Mutter Anna. Die Figur hat ihre Mutterrolle behalten – aus der Mutter von Jesus wurde nun die Mutter Mariens.
Die Figurengruppe ist aus Eichenholz gefertigt; die hl. Anna ist 70 cm hoch, Maria 45 cm. Unbekannte Künstler schufen das Werk. Die hl. Anna sitzt in aufrechter, würdevoller Haltung und in sich ruhend auf einer rechteckigen Bank. Sie ist dem Betrachter frontal zugewandt. Ihr Gesicht ist ebenmäßig und freundlich. Das lange gescheitelte Haar fällt leicht gewellt auf den Rücken herab. Ihr grünes Kleid ist am Halsausschnitt, an den Ärmeln sowie am Saum golden gefasst und in der schmalen Taille gegürtet. Ein zinnoberrotes Manteltuch mit goldenem Besatz wird vor ihrer Brust mit einer Brosche gehalten. Es ist in weitem Schwung von ihrem linken Arm bis über das rechte Bein gezogen und fällt in fast gleichmäßigen parallelen Falten herab. Rechts von Anna steht ihre junge Tochter Maria. Sie trägt ein weißes Kleid, das an Halsausschnitt, Ärmeln und Saum goldenen Besatz aufweist. Das kontrapostisch vorgestellte rechte Bein drückt sich durch das faltenreiche Gewand. Ihr blaues Manteltuch, ebenfalls mit goldfarbenem Besatz , fällt in weichen weiten Falten herab. Beide Figuren tragen Halsketten sowie ziselierte, mit Steinen besetzte Kronen. Verbunden werden beide Figuren durch ein Buch, das sie gemeinsam halten. Auf der Rückseite der Annafigur befindet ein Votivschild mit der Aufschrift “S=BOKE=C=1750”. Ein 88 cm hoher samtbezogener Eichenholzrahmen mit 37 metallenen Votivgaben gehört zur “Mutter Anna” und verdeutlicht den hohen Grad der Verehrung in Boke.
Die neugotische Farbfassung der Annenfigur, die der Gemeinde noch von früher bekannt war, wurde schon 1963 bei Restaurierungsarbeiten entfernt. Heute trägt Anna – wie beschrieben – einen zinnoberroten Mantel mit grünem Untergewand, Maria einen blauen Mantel mit weißem Untergewand. Beide Farbfassungen stammen aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, der Zeit der Umarbeitung. Bei Maria ist es die Erstbemalung, bei Anna liegt noch eine ältere gotische Schicht darunter, deren Mantelfarbe auch zinnoberrot ist. Vor einigen Monaten hat die Firma Ochsenfarth die Schadstellen ausgebessert und die Figur konservatorisch behandelt; die Firma Schnorrenberg reinigte und reparierte die Votivgaben und die Metallkronen. Auf der Suche nach möglichen Reliquien in der Figur hat man sie einer Computertomographie im St. Vinzenz-Krankenhaus in Paderborn unterzogen. Sichtbar wurde ein Hohlraum, der aufgrund eines eingesetzten Brettes im Rücken der Figur zu erahnen war. Die gefundene Kammer enthielt aber keine Reliquien oder ein Behältnis dafür.2
Auf tiefe ortsgeschichtliche Wurzeln geht die Verehrung der hl. Anna in Boke zurück.
Neben der Pfarrkirche St. Landelinus bestand früher in Boke ein zweites, kleines Gotteshaus, die Kapelle der Burg auf Ringboke. Ihre Patronin und ihr Patron waren St. Anna und St. Antonius. Nach Fertigstellung der ersten Burg baute Bernd von Hörde im Jahre 1371 die erste Burgkapelle. Sie hatte nur etwa einhundert Jahre Bestand. Im Jahre 1502 beendete Philipp von Hörde den Bau einer neuen Kapelle, die er mit zahlreichen Stiftungen ausstattete. Ein eigener Vikar betreute diese Hofkapelle, die in erster Linie für den Adel bestimmt war. Auch Philipp und Johann von Hörde bestätigten dem Annenaltar 1505 ewige kirchliche Pfründe.
Nach Zerstörung von Burg und Burgkapelle im Dreißigjährigen Krieg erfolgte 1658 der Aufbau des neuen Schlosses und der dritten Kapelle. Seit 1711 verlor diese Schlosskapelle ihre Selbstständigkeit und wurde zur Außenstelle der Boker St. Landelinus Pfarrkirche. Das kirchliche Leben auf Ringboke ging zwar mit der Betreuung durch Vikare noch weiter, aber die Verwaltung erfolgte nun von der Pfarrkirche aus. Für 1794 wird berichtet, dass jedes Jahr am Festtag der hl. Anna eine feierliche Prozession von der Pfarrkirche in Kirchboke zur Schlosskapelle nach Ringboke ging. Weiterhin läutete der Boker Schulmeister auf Ringboke täglich drei Mal den Angelus. Im Jahre 1818 wurde das kleine Kirchlein abgebrochen.3 Damit fand der augenfälligste Teil der langen Annatradition in Boke sein Ende.
Die Glocke der Schlosskapelle hat 1953 auf dem Ehrenmal für die Gefallenen der Weltkriege ihren neuen Platz gefunden. Ihr Geläut wird heute von der Familie Henkemeier betreut. Der Stationsaltar der Annaprozession wurde zuletzt von der Familie Groepper auf der Gunnebrücke aufgestellt. Diese alte gotische Brücke hat einen deutlichen historischen Bezug, denn sie war früher der Eingang zum eigentlichen Burg- bzw. Schlossgelände. In den letzten Jahren (etwa ab 1960) hat man aus praktischen Gründen den Stationsaltar im wenige Meter entfernten Ehrenmal für die Gefallenen der Weltkriege aufgebaut. Die Tradition der Annaprozession nach Ringboke kam etwa in den 1970er Jahren zum Erliegen.
Welch wichtigen Stellenwert die “Mutter Anna” für Boke innehatte, zeigte sich auch darin, dass sie bei allen Prozessionen der Kirchengemeinde, nicht nur bei der Annaprozession nach Ringboke, mitgeführt wurde. Getragen wurde sie von den älteren Frauen des Ortes. Auch diese Tradition brach in den 1970er Jahren ein.
Weitere Merkmale der Annaverehrung haben in Boke lange Bestand gehabt. So berichtet Dr. Josef Tönsmeyer in seinem 1968 erschienen Buch, dass sich von den etwa zehn kirchlichen Bruderschaften, die es in Boke ab etwa 1500 gegeben hat, zum Zeitpunkt des Bucherscheinungsdatums nur die Anna-Bruderschaft (1746 von Pfarrer Samuel Friedrich de Weßner gegründet) als einzige “im Volk lebendig erhalten hat. Das kommt daher, weil die hl. Anna ... schon seit Tagen des ausgehenden Mittelalters eine besondere Verehrung genoß, ... Noch heute wird der Annentag, der mit der Feier des Kirchenpatrons zu den Hauptfesten in der Pfarrgemeinde zählt, durch eine feierliche Prozession von der Pfarrkirche nach Ringboke und durch die Verehrung der Reliquie festlich begangen.”4
Die Anna-Bruderschaft gibt es heute nicht mehr.
Der große Stellenwert der Annaverehrung in Boke kam auch bei der Namensgebung von Täuflingen deutlich zum Ausdruck. Über viele Jahrhunderte wurden neugeborene Mädchen in ihrem ersten, zweiten oder dritten Vornamen auf den Namen Anna getauft. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts war Anna der beliebteste Name, erst etwa hundert Jahre nachdem man die Kapelle auf Ringboke abgerissen hatte, rückten die Eltern von dieser langen Gewohnheit ab. Eindrucksvoll belegen die nachfolgenden Zahlen diesen Sachverhalt.5
Der Name Anna in der Kirchengemeinde Boke |
|||||||||||||
Untersuchungszeiträume |
1641- |
1686- |
1710- |
1751- |
1792- |
1808- |
1850- |
1880- |
1900- |
1924- |
1941- |
1961- |
1978- |
Weibliche Täuflinge in der Kirchengemeinde Boke |
78 |
101 |
42 |
46 |
54 |
81 |
84 |
79 |
71 |
40 |
40 |
59 |
39 |
Täuflinge, die den Namen Anna erhielten |
29 |
49 |
16 |
26 |
36 |
45 |
27 |
19 |
19 |
5 |
1 |
1 |
0 |
Der Name Anna in Prozent, bezogen auf die weiblichen Täuflinge |
37,2 |
48,5 |
38,1 |
56,5 |
66,7 |
55,6 |
32,1 |
24,1 |
26,8 |
12,5 |
2,5 |
1,7 |
0 |
Untersuchungszeiträume, in denen Anna als Vorname am häufigsten vergeben wurde |
x |
x |
x |
x |
x |
x |
x |
x |
Über die Frage, ob die Figur der hl. Anna noch in der letzten Schlosskapelle gestanden hat, können nur Vermutungen angestellt werden, dazu sind zur Zeit keinerlei Quellen bekannt. Es fällt auf, dass die Umarbeitung der Figur im engen zeitlichen Zusammenhang mit der Gründung der Anna-Bruderschaft steht. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stand Anna auch bei der Namensgebung sehr hoch im Kurs.
Mit der Rückkehr der Heiligenfigur in die Boker Kirche wird daher sowohl an die Heilige selbst als auch an die geschichtlichen Wurzeln, die sie in Boke hat, erinnert. Ihr ist in der Nische zum rechten Seitenschiff ein würdiger Platz zugekommen.
Quellen:
- Hans Hümmeler, Helden und Heilige, Siegburg 1961, S. 369.
- nach: Wolfgang Hansmann, Dokumentation zur Konservierung der Firma Ochsenfahrt, Paderborn im Dezember 2001, unveröffentlicht.
- nach: Josef Tönsmeyer, Das Lippeamt Boke, Hg.: Amtsverwaltung Salzkotten-Boke, Rheine 1968, S. 92-95
- Tönsmeyer, S. 67-68.
- nach: Ingrid Bewermeier, Vornamengebung in Boke, Grundlagendaten, Münster 1982, unveröffentliche Seminararbeit.
Fotonachweis:
- Farbfotos: Johannes Kruse
- CT-Foto: Archiv Ochsenfarth